MONTAG, 16.25 UHR

Der Typ ist so was von kaputt«, sagte Santos auf dem Weg ins Präsidium. »Wie kann man in diesem Dreck leben? Die Bude könnte so schön und gemütlich sein.« Ohne darauf einzugehen, bemerkte Henning: »Aber er hat im Wesentlichen das bestätigt, was die Bruhns uns gesagt hat. Dass Bruhns aber schon so lange und auch ungeniert mit Kindern rumgemacht hat, erstaunt und erschreckt mich schon. Der Kerl war pädophil, einige in seinem Umfeld wussten davon, aber keiner ist eingeschritten. Und warum? Weil zu viele mit ihm unter einer Decke stecken. So ist es doch immer. Es ist immer wieder das gleiche Spiel.«

»Er war nicht nur pädophil«, warf Santos ein. »Kinder ab elf, zwölf, junge Erwachsene bis maximal fünfundzwanzig. Ich werde das Gefühl nicht los, dass hier das Motiv zu suchen ist. Es würde auch die Positionierung der Leichen erklären. Der Täter hat uns ein Zeichen gegeben und uns gezeigt, was für ein Mensch Bruhns war. Dazu hat die Steinbauer gehört.«

»Mag sein, aber die Steinbauer war schon achtzehn und damit volljährig. Nele war elf oder zwölf, das ist eine andere Liga.«

»Jetzt fragt sich nur, wo setzen wir an? Mir geht diese elende DNA nicht aus dem Kopf. Das irritiert mich so sehr, das blockiert mich im Denken«, sagte Santos. »Hätte Klaus doch bloß seine Klappe gehalten! Kannst du das verstehen?«

Henning legte eine Hand auf ihre und erwiderte: »Mir geht's ja ähnlich. Aber blenden wir das doch mal aus. Würdest du Weidrich den Mord zutrauen?«

Santos überlegte kurz und schüttelte den Kopf. »Er ist ein Säufer und wäre gar nicht in der Lage, einen so präzise ausgeführten Mord zu begehen. Der hätte Bruhns erschlagen oder erwürgt, aber das? Nee, auf gar keinen Fall. Der hegt einen mächtigen Groll gegen Bruhns, aber Mord ... Er kommt mir nicht so vor, als hätte er den Mumm und die Energie dazu. Der ist körperlich am Ende.«

»Na ja«, hielt Henning dagegen, »aber sieh doch mal, wie klar er trotz allem im Kopf ist. Der hält seinen Promillepegel, und die Welt ist in Ordnung. Okay, nicht in Ordnung, der Mann wurde völlig aus der Bahn geworfen, er hat keine Perspektive mehr, er lebt allein in einer versifften Bude, ich nehme an, er hat nicht mal Freunde oder Bekannte, für ihn hat das Leben keinen Sinn mehr. Nur noch Alkohol und Glotze. Was für ein Leben, wenn man es denn Leben nennen kann. Ich würde mir die Kugel geben, wenn ich so dahinvegetieren müsste.« »Ich korrigiere mich, was den Mumm und die Energie angeht. Sind nicht gerade solche Menschen in Ausnahmesituationen zu den scheinbar unmöglichsten Taten fähig? Wir haben's doch erst letztens erlebt, die Frau, die sich über Jahre von ihrem Mann hat schlagen und vergewaltigen lassen, sie eins fünfzig, er eins neunzig, und eines Tages bringt sie eine übermenschliche Energie auf, rammt ihm ein paarmal das Messer in Brust und Bauch, und den Rest kennst du.«

»Sicher, das war eine solche Ausnahmesituation, aber nicht zu vergleichen mit der von Weidrich. Die Frau hat über Jahre hinweg die Hölle durchlebt, und sie hat sich große Sorgen um ihre beiden Kinder gemacht. Ihre Aussage war eindeutig, sie wollte die Kinder schützen, weil ihr Mann auch vor denen nicht mehr haltgemacht hat. Da hat sie in einem Moment diese übermenschliche Kraft aufgebracht, mit der vor allem ihr Mann nicht gerechnet hatte. Sein Pech. Aber zurück zu Weidrich. Er ist seit einem Jahr nicht mehr im Studio gewesen, er hat abgeschlossen, und zwar mit allem.«

»Und wenn er in seinem Zorn doch mal schnell den beseitigt hat, den er für all sein Unglück verantwortlich macht? Hältst du das für abwegig?« »Ich halte grundsätzlich nichts für abwegig, aber diese Theorie für unwahrscheinlich. Der geht nur noch aus dem Haus, um sich Stoff zu besorgen. Wenn er keine Zeitung liest und kein Radio hört, kann er nicht wissen, was in der Welt vor sich geht. Der weiß wahrscheinlich noch nicht mal, dass Obama Präsident der USA ist.« »Da fällt mir was auf«, entgegnete Santos nachdenklich. »Ich glaube, dass Weidrich uns einen Bären aufgebunden hat. Was hat er gesagt, was er immer nur guckt? Sport? Er hat aber auch gesagt, dass er immer das Kotzen gekriegt hat, wenn er Bruhns im Fernsehen gesehen hat. Mir wäre neu, dass Bruhns im Sportfernsehen aufgetreten ist.« »Was willst du damit sagen?«

»Nichts, nur dass Weidrich in einem Punkt gelogen hat.« »Ach komm, wir wollen doch jetzt nichts konstruieren. Er hat nicht gelogen, er hat uns höchstens nicht die volle Wahrheit gesagt. Wenn Weidrich Bruhns hätte töten wollen, hätte er so viele Gelegenheiten gehabt, dazu hätte er nicht nach Schönberg fahren müssen ... Ein Schluck zu viel, er lauert Bruhns auf, wenn dieser zum Studio kommt, und dann stellt er ihn zur Rede, Bruhns lässt einen dummen Spruch los, und Weidrich tickt im Affekt aus und knallt ihn ab oder ersticht ihn. Das könnte ich mir vorstellen, aber eine solche inszenierte Tat - nie und nimmer. Außerdem hätte er von hier nach Schönberg fahren müssen, ich glaube aber kaum, dass er ein Auto hat. Und wenn, dann wäre er ein enormes Risiko eingegangen, nur mal angenommen, er wäre in eine Polizeikontrolle geraten. Der Mann ist zu nichts mehr fähig, der kann ja nicht mal mehr seine Wohnung aufräumen. Dann noch die Plazierung der Leichen, auf so eine Idee würde der gar nicht kommen, so weit reicht sein kreativer Horizont nicht. Lass gut sein, ich schließe ihn aus, und das solltest du auch tun.«

»Der Anrufer hat explizit gesagt, wir sollen in Bruhns' Umfeld suchen. Das fängt bei seiner Frau an und hört wo auf? Beim Personal, beim Nachfolger von Weidrich im Tonstudio, bei dubiosen Geschäftspartnern, bei Künstlern, die sich von Bruhns über den Tisch gezogen fühlten? Oder bei Freunden und Ehemännern von Frauen, mit denen Bruhns im Studio rumgevögelt hat? Oder ein Vater, der wusste, dass Bruhns seine Tochter missbraucht hat? Damit sind wir länger beschäftigt als bis Sonntag.« »Willst du meine Theorie hören? Der Mörder ist entweder jemand, der von Bruhns' pädophilen Aktivitäten wusste und es nicht mehr dulden wollte oder konnte, aber kein Vertrauen in die Polizei hatte, oder es handelt sich um jemanden, der von Bruhns schäbig behandelt wurde. Davon soll es ja eine ganze Menge geben, siehe Weidrich.«

»Oh, da würde mir aber noch einiges mehr einfallen. Aber lassen wir das, je mehr wir spekulieren, desto mehr verrennen wir uns. Wir schreiben gleich alles an die Tafel und ...«

»Von mir aus. Sag mal, gestern habe ich die Bruhns noch ausgeschlossen. Wenn ich's recht bedenke, hätte sie aber doch ein sehr starkes Motiv gehabt. Sie wusste von den Kindern, ihr Mann war ein notorischer Fremdgänger, sie wurde von ihm, wenn es denn stimmt, wie eine Gefangene gehalten und auch geschlagen, er hat sie bedroht, als sie ihn verlassen wollte, aber sie wollte nicht auf ihr Luxusleben verzichten, wovon ich jetzt einfach mal ausgehe. Aber da sie es nicht selbst war, müsste sie jemanden beauftragt haben. Hört sich zwar an wie in einer schlechten Seifenoper, soll aber alles schon vorgekommen sein. Oder?« »Viel zu weit hergeholt ...«

»Warum? Stell dir vor, sie hat selbst einen Geliebten, von dem keiner etwas weiß, mit dem sie diesen perfiden Plan ausgeheckt hat ... Auch das soll's schon gegeben haben.«

»Blödsinn. Sie hat eine einjährige Tochter, wir haben beide erlebt, wie liebevoll sie mit ihr umgeht, und da willst du mir eine Theorie, ach, was sage ich, eine weit hergeholte Hypothese unterjubeln, dass diese Frau einen Geliebten haben soll und praktisch eine Art Jekyll und Hyde ist? Nein, nein, nein! Aber bitte, wenn es dich beruhigt, dann fragen wir sie doch einfach, wir werden sofort an ihrer Reaktion merken, ob sie lügt. Lass uns hinfahren.«

»Okay«, sagte Henning nur und lenkte den Wagen in Richtung Bruhns' Haus. »Ich will Klarheit haben.« »Du Kleingläubiger, du«, erwiderte Santos lächelnd und streichelte seine Hand.

»Nee, ich bin nur ein gebranntes Kind. Außerdem können wir fast alle eben genannten Theorien über den Haufen werfen, denn wer außer einer Person mit einer extremen kriminellen Energie könnte über die DNA der unbekannten weiblichen Person verfügen? Unser Ansatz ist falsch.« »Okay, du hast recht. Ich blende das mit der DNA immer wieder aus. Tut mir leid.« »Geht mir doch nicht anders.«

 

Eisige Naehe
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
Eisige Naehe_split_000.html
Eisige Naehe_split_001.html
Eisige Naehe_split_002.html
Eisige Naehe_split_003.html
Eisige Naehe_split_004.html
Eisige Naehe_split_005.html
Eisige Naehe_split_006.html
Eisige Naehe_split_007.html
Eisige Naehe_split_008.html
Eisige Naehe_split_009.html
Eisige Naehe_split_010.html
Eisige Naehe_split_011.html
Eisige Naehe_split_012.html
Eisige Naehe_split_013.html
Eisige Naehe_split_014.html
Eisige Naehe_split_015.html
Eisige Naehe_split_016.html
Eisige Naehe_split_017.html
Eisige Naehe_split_018.html
Eisige Naehe_split_019.html
Eisige Naehe_split_020.html
Eisige Naehe_split_021.html
Eisige Naehe_split_022.html
Eisige Naehe_split_023.html
Eisige Naehe_split_024.html
Eisige Naehe_split_025.html
Eisige Naehe_split_026.html
Eisige Naehe_split_027.html
Eisige Naehe_split_028.html
Eisige Naehe_split_029.html
Eisige Naehe_split_030.html
Eisige Naehe_split_031.html
Eisige Naehe_split_032.html
Eisige Naehe_split_033.html
Eisige Naehe_split_034.html
Eisige Naehe_split_035.html
Eisige Naehe_split_036.html
Eisige Naehe_split_037.html
Eisige Naehe_split_038.html
Eisige Naehe_split_039.html
Eisige Naehe_split_040.html
Eisige Naehe_split_041.html
Eisige Naehe_split_042.html
Eisige Naehe_split_043.html
Eisige Naehe_split_044.html
Eisige Naehe_split_045.html
Eisige Naehe_split_046.html
Eisige Naehe_split_047.html
Eisige Naehe_split_048.html
Eisige Naehe_split_049.html
Eisige Naehe_split_050.html
Eisige Naehe_split_051.html
Eisige Naehe_split_052.html
Eisige Naehe_split_053.html
Eisige Naehe_split_054.html
Eisige Naehe_split_055.html
Eisige Naehe_split_056.html
Eisige Naehe_split_057.html
Eisige Naehe_split_058.html